Raptusformeln: Entführungen in der Literatur des 18. Jahrhunderts

Raptusformeln: Entführungen in der Literatur des 18. Jahrhunderts

Interview mit Dr. Irmtraud Hnilica zu ihrem Buch Raptusformeln

Literaturwissenschaftlerin Dr. Hnilica analysiert Entführungen im bürgerlichen Trauerspiel, Singspiel und Abolitionsdrama des 18. Jahrhunderts

Kultur, Literatur und Geschichte: im Interview führt die Autorin Dr. Irmtraud Hnilica das Publikum in die Welt des 18. Jahrhunderts und behandelt gesellschaftliche Zeitthemen aus kulturgeschichtlicher Perspektive. Dabei fokussiert sie sich in ihrem Band „Raptusformeln“ auf Entführungen, denn – von Sara Sampson, festgehalten in einem „elenden Wirtshause“, bis zu Konstanze im Serail – auf den Bühnen des 18. Jahrhunderts finden immer wieder Entführungen statt. Dr. Hnilicas Studie begibt sich auf die Spur der im bürgerlichen Trauerspiel, Abolitionsdrama und Singspiel verhandelten Raptusformeln. Mehr zum Thema und zum Band, der in der Reihe Texturen erschienen ist, erfahren Sie in unserem Gespräch mit der Autorin:

Raptusformeln zeigt, dass Entführungen in der Literatur des 18. Jahrhunderts ein zentrales Motiv sind, um gesellschaftliche Zeitthemen zu verhandeln. Was macht dieses Motiv besonders geeignet, um Fragen zu Geschlechterverhältnissen darzustellen?

„Literarische Entführungen, wie sie im bürgerlichen Trauerspiel, Abolitionsdrama und Singspiel des 18. Jahrhunderts zur Darstellung kommen, leisten einen maßgeblichen Beitrag zur Exploration von Fragen, die im 18. Jahrhundert durch den Übergang zur emotionalen Moderne aufgeworfen werden. Anhand von Entführungen lässt sich etwa verhandeln, ob es möglich ist, eine Frau zur Liebe zu zwingen, ob Eltern mit der Partnerwahl einverstanden sein müssen oder ob Liebe eine Eigengründung der sich Liebenden ist. Aus der Rechtsgeschichte, das habe ich im Verlauf meiner Forschung gelernt, wird eine bis in die Gegenwart reichende klare geschlechtsspezifische Codierung von Entführung deutlich; entführt werden grundsätzlich Frauen. Dabei gilt es allerdings eine Besonderheit zu beachten. Anders, als wir vermuten würden, konnte eine Entführung nämlich nicht nur gegen, sondern auch mit dem Willen der Frau geschehen. Sie richtet sich im Rechtsverständnis der Zeit in erster Linie gegen den Vormund, wie etwa Lessings Miss Sara Sampson zeigt.“

Sie betonen, dass der Topos der Entführung eine Bühne für die Darstellung von Interkulturalität bietet. Welche Rolle spielen interkulturelle Begegnungen in den von Ihnen untersuchten dramatischen Formen?

„Gerade im 18. Jahrhundert kommt Kulturtransfer große Bedeutung zu. Die Frage der Sklaverei, der Abolition drängt darüber hinaus nach Auseinandersetzung. Diese leistet das heute weitgehend unbekannte Genre des Abolitionsdramas. Das Abolitionsdrama setzt, wie ich in meiner Studie zeige, die Sklaven als Entführte in Szene und schließt an die Mitleidspoetik des bürgerlichen Trauerspiels an. Die Tragödienfähigkeit, die sich der Bürger in der Mitte des Jahrhunderts neu errungen hatte, kommt nun auch den aus Afrika verschleppten Sklav*innenfiguren zu. So gestaltet zum Beispiel Kotzebue mit der Sklavin Ada in Die N****sklaven eine Art afrikanische Emilia Galotti. Vor dem Hintergrund des Abolitionsdramas habe ich dann auch die Figur des Sklaven Monostatos aus Mozarts Zauberflöte neu lesen können.“

Als letzte Frage: Was würden Sie als Leser:in für die heutige Gesellschaft aus Ihrem Buch mitnehmen?

„Bereits mit der Romantik ändert sich der Blick auf Entführungen und Autoren wie Eichendorff oder E.T.A. Hoffmann nehmen Entführungen nur mehr aus der Metaperspektive als überholte literarische Konvention wahr. Es ist insofern schwierig, den Bogen bis in die heutige Gesellschaft schlagen zu wollen – zumal literarische Entführungen im 18. Jahrhundert ganz bestimmte Funktionen für die Texte innehaben, wie etwa die Neuverhandlung von Liebe und Ehe oder eben Kulturkontakte in Szene zu setzen. Von der Ebene, auf der wir aktuell über Entführungen sprechen – in jüngerer Zeit vor allen Dingen im Zusammenhang mit den furchtbaren Geiselnahmen durch die Hamas – unterscheidet sich das stark. Meine Studie kann aber ein Beitrag dazu sein, den kulturgeschichtlichen Rückraum von Entführungen zu beleuchten. Mitnehmen lässt sich dabei sicherlich eine offenere Perspektive auf das 18. Jahrhundert. Denn es gibt weder die Raptusformel des 18. Jahrhunderts noch den Sklaverei- oder Geschlechterdiskurs der Zeit. Es gilt deshalb, das Archiv für die tatsächlich vorfindbare Vielfalt der literarischen Raptusformeln offen zu halten.“

Meine Studie kann aber ein Beitrag dazu sein, den kulturgeschichtlichen Rückraum von Entführungen zu beleuchten. Mitnehmen lässt sich dabei sicherlich eine offenere Perspektive auf das 18. Jahrhundert.

Dr.Irmtraud Hnilica , Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der FernUniversität in Hagen

Das Interview gibt Einblicke in aktuelle wissenschaftliche Kernthemen, die im Werk von Dr. Hnilica auftauchen. Im Kontext der Darstellung von Entführungen – Raptusformeln – in der Literatur des 18. Jahrhunderts werden interkulturelle Beziehungen sowie Geschlechterverhältnisse in der derzeitigen Gesellschaft beleuchtet.