Die Säkularisierung als Narrativ: Ein Gespräch mit Herausgeberin Angelika Gröger

Die Säkularisierung als Narrativ: Ein Gespräch mit Herausgeberin Angelika Gröger

Die skandinavische Literatur um 1900 und ihre Rolle bei der Neuinterpretation von Säkularisierung

In den letzten Jahren hat das Konzept der Säkularisierung in Europa an Plausibilität verloren. Doch wie wurde die Säkularisierung als Narrativ in der skandinavischen Literatur um 1900 genutzt? Wir haben uns mit unserer Herausgeberin Angelika Gröger unterhalten, um mehr über ihr Buch „Säkularisierung erzählen: Entwürfe skandinavischer Literatur um 1900“ zu erfahren, das sie gemeinsam mit Prof. Dr. Joachim Schiedermair und Franziska Schlichtkrull herausgibt. In diesem Interview untersucht sie, wie diese Literatur die Säkularisierung als kulturell etablierten Deutungsrahmen nutzt und welchen Einfluss sie auf die aktuelle Diskussion in der Literaturwissenschaft haben könnte.

Säkularisierung als Konzept hat in den letzten Jahren in der Selbstdeutung Europas an Plausibilität verloren. Ihr Buch untersucht Säkularisierung jedoch nicht als historischen Prozess, sondern als kulturell etablierten Deutungsrahmen in der skandinavischen Literatur um 1900. Können Sie uns mehr darüber erzählen, wie diese Literatur Säkularisierung als Narrativ nutzt und welche Logiken sie dabei anwendet, um es glaubwürdig oder Alternativen denkbar zu machen?

„Das von der Forschung erst nach 2000 als Narrativ belegte Säkularisierungsparadigma ist zwischen 1870 und 1910 noch nicht fest etabliert, sondern wird in vielen Debatten dieser Zeit erst ausgeformt. Die Literatur mit ihrer spezifischen Ästhetik beteiligt sich an dieser Ausformung, indem sie die Säkularisierung in ihrer ganzen Ambivalenz verhandelt und zugleich – so die These – als Narrativ erkennbar macht. Dieses Narrativ ist auf ein Ziel hin formuliert, auf das die Zeit zuläuft; dadurch präsentiert es einen Sinn in der Geschichte, der den westlichen Gesellschaften ein modernes Selbstverständnis bietet. Und die Literatur bricht diese große Geschichte in die kleinen Geschichten einzelner Figuren herunter und plausibilisiert das Narrativ oder problematisiert es so. Fortschrittsglaube oder Glaubensverlust, zweifelndes Freidenkertum, die Psychologisierung von Religion oder die Sakralisierung der Natur sind nur einige Beispiele dafür, wie Säkularisierung um 1900 in Skandinavien erzählt wird.“

Ihr Buch enthält Beiträge verschiedener Autor:innen, die die Säkularisierung in der skandinavischen Literatur um 1900 untersuchen. Können Sie uns etwas über interessante Entdeckungen oder überraschende Erkenntnisse erzählen, die Sie bei der Recherche zu diesem Buch gemacht haben? Gibt es eine bestimmte Analyse oder Interpretation, die Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben ist und die Sie mit den Leser:innen teilen möchten?

„Es ist immer wieder inspirierend zu sehen, wie unterschiedlich andere Literaturwissenschaftler:innen an eine gemeinsame Fragestellung herangehen und welche Texte sie für ihre Untersuchungen wählen. Für mich persönlich eine Entdeckung waren die wenig bekannten Erzählungen der Finnlandschwedin Ina Lange und der aus einer dänisch-jüdischen Familie stammenden Olivia Levison. Beide Autorinnen setzen sich kritisch mit dem durch das Christentum legitimierte Patriarchat und der Geschlechterhierarchie im Kontext verschiedener Institutionen und Beziehungen (Ehe, Familie, Kirche, Gesellschaft) auseinander. Dabei lehnen sie Religion und Glaube jedoch nicht einfach ab, sondern veranschaulichen die Komplexität der Problemstellung in Metaphern und motivischen Strukturen oder durch das Erzählen von gesellschaftlichen Negativbildern.“

Die Literaturwissenschaft befindet sich in einer Phase, in der sie das Konzept der Säkularisierung in Frage stellt. Welche Auswirkungen könnte Ihre Perspektive, Säkularisierung als Narrativ zu betrachten, auf die zukünftige Forschung und Diskussion in diesem Bereich haben? Welche anderen Epochen oder literarischen Kontexte könnten von einem ähnlichen Ansatz profitieren?

„Man kann die Aufklärung als Startpunkt der Säkularisierung betrachten, da Phänomene der Verweltlichung in vielen literarischen Zeugnissen dieser Epoche zu finden sind. Doch das Säkularisierungsparadigma darauf anzuwenden hieße auch, eine Deutung der Geschichte, die erst im ausgehenden 19. Jahrhundert entstand, in die Vergangenheit zurückzuprojizieren. Deshalb würde ich lieber auf die Gegenwart verweisen wollen. Beispielsweise verleihen sowohl die Angst vor dem Islamismus wie vor dem fundamentalistischen Christentum dem Säkularisierungsparadigma, das aufgrund seines eurozentrischen Charakters und aufgrund zahlloser widersprüchlicher historischer Fakten in eine Krise geraten ist, neue Plausibilität. Doch die Auseinandersetzung mit fundamentalistischen wie neusäkularistischen Narrativen kann man nur dann sinnvoll führen, wenn man das narrative Begehren hinter den Erzählungen sichtbar macht. Und dafür sind die Literaturwissenschaften prädestiniert.“

… die Auseinandersetzung mit fundamentalistischen wie neusäkularistischen Narrativen kann man nur dann sinnvoll führen, wenn man das narrative Begehren hinter den Erzählungen sichtbar macht. Und dafür sind die Literaturwissenschaften prädestiniert.

Angelika Gröger , Mitherausgeberin

Die Literatur um 1900 in Skandinavien hat die Säkularisierung als Narrativ genutzt, um komplexe gesellschaftliche Fragen zu beleuchten. Angelika Gröger und ihre Mitherausgeber:innen haben in ihrem Buch „Säkularisierung erzählen“ faszinierende Einblicke gewonnen, darunter die Entdeckung weniger bekannter Autorinnen, die das Patriarchat und die Geschlechterhierarchie kritisch hinterfragen. Diese neue Perspektive auf Säkularisierung bietet nicht nur eine spannende Herangehensweise an die Literatur um 1900, sondern eröffnet auch interessante Ansatzpunkte für die zukünftige Forschung. Damit zeigt sich, dass Literaturwissenschaft auch in Zeiten des Wandels und der Krise wichtige Impulse für die Reflexion unserer Gesellschaft liefern kann.