Einblick in die faszinierende Welt der Kulturtechniken – Erkenntnisse über Grundlagen kultureller Konstruktionen und ihre Auswirkungen auf unsere Wahrnehmung
In einem exklusiven Interview mit dem Verlag Rombach Wissenschaft spricht Prof. Dr. Bernhard Siegert über sein neuestes Buch „Kulturtechniken: Rastern, filtern, zählen und andere Artikulationen des Realen„. Das Buch gibt einen tiefen Einblick in die faszinierende Welt der Kulturtechniken und macht deutlich, wie scheinbar unscheinbare Elemente und Operationen grundlegende Erkenntnisse über kulturelle Konstruktionen liefern können. Professor Siegert legt die Grundlagen seiner Forschung offen und vermittelt Schlüsselerkenntnisse, die dazu beitragen, traditionelle Unterscheidungen und Perspektiven aufzubrechen und neu zu gestalten.
Herr Professor Siegert, Ihr neues Buch „Kulturtechniken: Rastern, filtern, zählen und andere Artikulationen des Realen“ bietet einen tiefen Einblick in die Welt der Kulturtechniken. Könnten Sie uns einen kurzen Einblick geben, wie Sie zur Erforschung dieser faszinierenden Thematik gekommen sind und was die Leser:innen von Ihren konkreten historischen Fallstudien erwarten können?
Die Thematik ist ebenso sehr zu mir gekommen wie ich zu ihr. Ich war ja unmittelbar dabei, als in den 90er Jahren an der Humboldt-Universität zu Berlin das Helmholtz-Zentrum für Kulturtechniken gegründet wurde, an dem Vertreter:innen aus Medienwissenschaft, Kunstgeschichte, Philosophie, Informatik und Mathematik beteiligt waren. Allerdings erschien mir schon 2001, als ich auf die Professur für Geschichte und Theorie der Kulturtechniken an der Bauhaus-Universität Weimar berufen wurde, die Eingrenzung des Felds der Kulturtechniken auf „Schrift, Bild, Zahl“ zu eng. Seitdem habe ich mich der Erweiterung dieses Feldes in Bezug auf die Theorie, die Gegenstände und die Methode der Kulturtechniken gewidmet. Das neue Buch dokumentiert einerseits diese Erweiterung durch die Vielfalt der Themen, andererseits geben die verschiedenen Kapitel den Leser:innen Beispiele dafür (so hoffe ich jedenfalls), was die besondere Perspektive der Kulturtechnikforschung hinsichtlich der Gewinnung spezieller Einsichten in der Lage ist zu leisten.
Ihr Buch beleuchtet die Wechselwirkungen zwischen Realem und Symbolischem, Mensch und Nicht-Mensch sowie vielen anderen grundlegenden Unterscheidungen. Welche Schlüsselerkenntnisse oder bahnbrechenden Ideen haben Sie während Ihrer Forschung gewonnen, die nun in diesem Werk präsentiert werden? Und wie können diese Erkenntnisse dazu beitragen, unsere Perspektiven auf die Kulturtechniken zu erweitern?
Wenn es überhaupt eine bahnbrechende Erkenntnis gibt, die diesem Buch zugrunde liegt, dann ist es die, dass es die unscheinbarsten und scheinbar primitivsten Elemente und Operationen sind – Punkte in einem Text, das Rastern einer Fläche, Zäune, Türen, Tischgerät wie Teller und Tischtuch –, welche die spannendsten Einsichten in die materialen Grundlagen kultureller Konstruktionen (wie z. B. die Zahl, das Bild, Daten, Gemeinschaft, das Tier) vergönnen. Daraus folgt, was gleichzeitig eine Schlüsselerkenntnis der Kulturtechnikforschung als auch ihr wichtigstes Erkenntnisprinzip ist: Dass es keine Ontologie philosophischer Begriffe gibt. Es gibt den Menschen nicht unabhängig von Techniken der Hominisierung; es gibt keine Zeit unabhängig von Techniken der Zeitmessung und Zeitbewirtschaftung; es gibt keinen Raum unabhängig von Techniken der Raumbeherrschung; es gibt keine Daten unabhängig von Techniken der Datenverarbeitung.
Die Kulturtechnikforschung, die Sie in Ihrem Buch vorstellen, analysiert Situationen, in denen traditionelle Unterscheidungen aufgehoben sind und scheinbar im Wandel begriffen sind. Könnten Sie uns ein Beispiel aus dem Buch nennen, das diese Idee veranschaulicht und uns dabei hilft zu verstehen, wie sich die Analyse solcher Situationen auf unsere Wahrnehmung von Medien, Symbolik und sogar anthropologischen Differenzen auswirken kann?
Ein grundlegendes Merkmal der Kulturtechnikforschung ist, dass sie die kategorialen Unterscheidungen, die eine Kultur trifft, um sich über sich selbst zu verständigen, durch das Problem ihrer Unterscheidung ersetzt. Denn Unterscheidungen sind nicht gegeben – weder ontologisch noch transzendental –, Unterscheidungen werden performiert. Nur dass Kulturen sich gewöhnlich darüber nicht verständigen, sondern diese Unterscheidungen für selbstverständlich halten. Europäer des 20. Jahrhunderts z. B. sind mühelos in der Lage, Karopapier zu verwenden, um einem Kunsthandwerker ein Muster zu vermitteln. Im Buch zitiere ich das Beispiel eines Berberteppichs, in den die Weberin das Karomuster, auf dem der französische Auftraggeber die Vorlage gezeichnet hatte, mit in den Teppich eingewebt hat. Während wir gelernt haben, das Medium auszublenden, hat die Berberfrau die Unterscheidung zwischen Medium und Botschaft nicht vollzogen. Sie hat damit unbewusst etwas getan, was die Kubisten dann ganz bewusst vollzogen haben als sie das Raster in die Malerei einführten, um die kategoriale Unterscheidung zwischen Grund und Figur, die die abendländische Malerei jahrhundertelang geprägt hat, aufzuheben.