Einblicke in die linguistische Studie von Dr. Philipp Freyburger zur Bedeutung des Körperlichen und Multimodalen in der Verarbeitung und Darstellung von historischen Traumata
In seinem neuesten Buch widmet sich Dr. Philipp Freyburger einer faszinierenden Herausforderung: der Analyse von Oral-History-Interviews mit Überlebenden nationalsozialistischer Konzentrationslager. Die Frage, wie die tiefgreifenden Erfahrungen dieser Zeitzeug:innen angemessen vermittelt und erforscht werden können, führt zu einer intensiven Auseinandersetzung mit Sprache, Körperlichkeit und historiographischer Verantwortung. Freyburgers Arbeit eröffnet neue Perspektiven auf die Erforschung der NS-Geschichte und beleuchtet die vielschichtige Bedeutung von Kommunikation und körperlichem Ausdruck.
Herr Dr. Freyburger, Ihr Buch beschäftigt sich mit der Analyse von Oral-History-Interviews von Zeitzeug:innen aus nationalsozialistischen Gefangenenlagern. Wie ist es möglich, diese tiefgreifenden Erfahrungen in einer Weise zu vermitteln und zu untersuchen, die den Worten der Überlebenden gerecht wird?
Sie berühren eine wichtige forschungsethische Frage. Mir war als erstes wichtig, alle Interviews in Gänze zu betrachten. Das wäre aufgrund der technischen Tools gar nicht nötig: Digitale Archive bieten die Funktion, Interviewsequenzen zu spezifischen Themenkomplexen oder gar Ausdrucksweisen zu durchsuchen. Durch genaues Zuschauen und -hören wurde ich automatisch mit der Biografie der Menschen vertraut, und viel davon ist auch in die Arbeit eingegangen. Für eine linguistische Studie trägt meine Arbeit, würde ich behaupten, ungewöhnlich starke historiographische Züge.
Zugleich bietet die Gesprächsforschung ein Instrumentarium, das eine forschungsethisch vertretbare Annäherung erlaubt. Wir arbeiten mit Transkriptionen, d.h. mit detaillierten Verschriftlichungen der Gespräche. Hieraus ergibt sich ein doppelter Vorteil: Einerseits glätten oder paraphrasieren wir das Gesprochene nicht. Ganz im Gegenteil geben wir Phänomene der Mündlichkeit – Intonation, Lautstärke, genauso Auslassungen und Pausen – systematisch wieder. Andererseits sind Transkriptionen „kontextsensitiv“: Äußerungen betrachten wir stets im Gesprächsverlauf. Insofern habe ich auch auf dieser Ebene versucht, den Worten der Überlebenden gerecht zu werden: Indem ich sie originalgetreu festgehalten und kontextualisiert habe.
Primo Levi äußerte einst die Notwendigkeit, „eine neue Sprache“ zu erfinden, um die unvorstellbaren Grausamkeiten der NS-Lager zu beschreiben. Glauben Sie, dass diese Herausforderung auch für videographierte Oral-History-Interviews gilt? Wie tragen Ihre multimodalen Ansätze dazu bei, die erlebte Realität dieser Zeitzeug:innen in angemessener Weise zu erfassen?
Da sich Levi dabei auf literarische Texte bezog, möchte ich zunächst hier ansetzen. Viele der zeitgenössischen literarischen Lagertexte bedienen sich nicht einer „neuen Sprache“, sondern neuer bzw. moderner Verfahren: u.a. plötzliche Einschübe, Fragmente, Digressionen und Metakommentare.
Solche – eher assoziativen – Strukturformen finden wir auch in mündlichen Erinnerungserzählungen. Nur werden sie hier allzu gerne als defizitär abgetan. Was aber wäre, wenn wir darin eine produktive Ressource sehen? Dann könnten wir diese „Sprache“ als kommunikatives Mittel begreifen, mit dem sich die Zeitzeug:innen an das vermeintlich Unsagbare herantasten und beispielsweise Formulierungsprobleme aufgrund der erlebten Gräueltaten verbal anzeigen. Bei den videographierten Interviews kommt nun die Besonderheit hinzu, dass die Zeitzeug:innen sich mit ihrer Gestik, Mimik und Körperhaltung auch körpersprachlicher Gestaltungsmittel bedienen und dadurch das ausdrücken, was sie nicht in Worte fassen können.
Meine Kurzantwort wäre also: Nicht die Zeitzeug:innen brauchen eine „neue Sprache“, sondern wir, die sich mit Oral-History-Interviews befassen, sollten offenere Analyseverfahren anwenden, um Sprache zu untersuchen.
In Ihrer Studie betonen Sie die Bedeutung des körperlichen Ausdrucks und der sinnhaften Rekonstruktion bei der Analyse von Oral-History-Interviews. Wie beeinflusst diese Betrachtungsweise die Art und Weise, wie wir historische Ereignisse verstehen und weitergeben? Welche Rolle spielt der Körper in der linguistischen Auseinandersetzung mit solch sensiblen Themen?
Der Phänomenologie konnte ich die Idee der doppelten Daseins-Dimension des Körpers entnehmen. Hier wird der Körper sowohl als Quelle – als source – der Erfahrung und gleichermaßen als Medium – als ressource – der Erfahrungsvermittlung verstanden. In meinen Analysen zeigte sich: Besonders wenn die Zeitzeug:innen ihre sensorischen Eindrücke thematisieren, überlagern sich die körperlichen Daseins-Dimensionen und tragen zur lokalen Sinnherstellung bei.
Mir kommt da die Sequenz einer italienischen Zeitzeugin in den Sinn, die von ihrer Deportation erzählt und davon, wie sie nach mehreren Tagen folgendes Ortsschild zu lesen bekam: „Auschwitz bei Kattowitz“. Die Zeitzeugin spielt im Interview das Lesen auch körperlich mit erhobenem Zeigefinger nach und re-inszeniert dann mit einem Schulterzucken die damalige Gleichgültigkeit – wie vielen anderen Deportierten, so ergänzt sie, sei ihr Auschwitz gänzlich unbekannt gewesen.
Was allein dieses Beispiel zeigt: Der Blick auf sensorische Wahrnehmung und auf körperliche Ausdrucksressourcen hilft, die Darstellung verschiedener (Wissens-)Perspektiven und früherer Affekte zu analysieren. In letzter Konsequenz verdeutlicht das, wie vielschichtig und individuell die Geschichte(n) der Zeitzeug:innen sind.