Jan Lietz spricht über ‚Haltung und Realismus‘ in der Literaturtheorie

09.11.2023

Jan Lietz spricht über ‚Haltung und Realismus‘ in der Literaturtheorie

Eine Analyse der (post-)marxistischen Realismusdebatte und ihre Auswirkungen auf den Begriff ‚Haltung‘ – Ein Blick auf das neue Werk von Dr. Lietz

Willkommen zu unserem Gespräch mit Dr. Jan Lietz, Autor des Buches „Haltung und Realismus: Zur Theorie poetischer Verallgemeinerung“. In diesem Buch setzt sich Dr. Lietz mit der (post-)marxistischen Realismusdebatte auseinander und beleuchtet die verschiedenen Perspektiven auf den Begriff der ‚Haltung‘ von Denkern wie Georg Lukács, Bertolt Brecht, Walter Benjamin, Theodor W. Adorno und Alexander Kluge. Neben literarischen Aspekten werden auch anthropologische, ethische und geschichtsphilosophische Implikationen analysiert. Lassen Sie uns gemeinsam einen objektiven Blick auf die Welt der Haltung und des Realismus werfen.

Könnten Sie uns zunächst einen Überblick über Ihr Buch „Haltung und Realismus“ geben und warum dieses Thema für die heutige Literaturtheorie relevant ist?

„In meinem Buch rekonstruiere ich die Auseinandersetzungen mit dem Begriff der ‚Haltung‘ im Kontext der (post-)marxistischen Realismusdebatte bei Georg Lukács, Bertolt Brecht, Walter Benjamin, Theodor W. Adorno und Alexander Kluge. Vor dem Hintergrund des Faschismus hat sich die stramme, soldatische ‚Haltung‘ diesen Autoren als ideologische Chiffre ihrer Zeit aufgedrängt. Darüber hinaus setzen sie sich aber auch mit den breiteren anthropologischen, ethischen und geschichtsphilosophischen Implikationen des Begriffs auseinander. Mit der ›Haltung‹ werden hier die Verdinglichung des menschlichen Selbst- und Wirklichkeitsverhältnisses thematisch sowie die Transformationen bürgerlicher Vorstellungen von Subjektivität, individueller Autonomie und Mündigkeit in der kapitalistischen Moderne. Als sozialer Imperativ an das Subjekt wird der Ruf nach ‚Haltung‘ zwar als zeitgenössisches Symptom der Entfremdung verstanden, stellt als solches aber zugleich die Frage nach einer emanzipatorischen Praxis.“

Ihr Buch befasst sich mit dem Begriff der „Haltung“ im Kontext der Realismusdebatte. Was verstehen Sie unter „Haltung“ und warum ist sie ein wichtiger Aspekt der Literaturtheorie?

„Mit ‚Haltung‘ wird oft ein politisches Engagement behauptet, ganz als sei das Politische der Literatur in der Gesinnung der Autor:innen zu suchen. Dagegen gehe ich davon aus, dass sich mit diesem Begriff interessantere Fragen nach dem menschlichen Wirklichkeitsverhältnis stellen: Welches Verhältnis hat der Mensch zu sich selbst und zur Wirklichkeit? Ist er Gestalter dieses Verhältnisses oder passiver Beobachter der über ihn herrschenden Verhältnisse? Wie reflektiert er dieses Verhältnis? (Wie) kann er sich emanzipatorisch verhalten? In der von mir betrachteten Theorielinien hängen diese Fragen mit einigen der wichtigsten poetologischen Problemstellungen des literarischen Realismus zusammen. Das Zentrum dieser Diskussion bildet ein emphatisches Verständnis literarischer Form, in dem die mit dem Begriff der ‚Haltung‘ aufgeworfenen subjekttheoretischen Problemstellungen und politischen Ansprüche als zugleich poetische gedacht werden.“

Abschließend, welche Erkenntnisse oder Botschaften hoffen Sie, dass Leser:innen aus Ihrem Buch „Haltung und Realismus“ ziehen?

„In meiner Arbeit skizziere ich eine Theorie der poetischen Verallgemeinerung als einer politischen Theorie der Form. Poetische Verallgemeinerung heißt dabei nicht: Wie drückt sich das schreibende Subjekt in der Literatur aus? Wie bringt es seine individuelle (politische) Gesinnung ein? Wie legt es seine ›Haltung‹ in Form nieder? Das spezifische Interesse dieser Fragestellung richtet sich vielmehr auf das komplizierte Wechselverhältnis von Subjektivität und literarischer Form. In welche Form von Allgemeinheit wird Subjektivität vermittelt? Wie wird das Verhältnis von Subjektivität und Objektivität formal reflektiert? Inwiefern werden die Determination und Kontingenz von Subjektivität dabei bedacht? Diese Fragen führen mitten in zeitgenössische Diskussionen über die politischen Ansprüche und Implikationen der Kunst hinein. Der Begriff der ›Haltung‹ sollte dabei allein zur Sichtbarmachung von Problemen, Antagonismen und Aporien dienen, nicht aber zur Behauptung einfacher Lösungen.“

Wir danken Dr. Jan Lietz für seine Ausführungen zu „Haltung und Realismus“. Seine Analyse der ‚Haltung‘ als poetische Verallgemeinerung eröffnet interessante Perspektiven auf den Zusammenhang von Subjektivität und literarischer Form. Das Gespräch bietet einen interessanten Einblick in die politischen Fragen der Literaturtheorie und zeigt, dass der Begriff der ‚Haltung‘ nicht nur ein zeitgenössisches Symptom der Entfremdung ist, sondern auch Fragen nach einer möglichen emanzipatorischen Praxis aufwirft. Vielen Dank für die fundierte Diskussion über die Verflechtungen von Literatur, Haltung und Realismus.