Der »Gang« ins Wirkliche: Ein Tiefeneinblick in Ernst Meisters Metapoesie – Ein Interview mit Dr. Andreas Gerards

04.10.2023

Der »Gang« ins Wirkliche: Ein Tiefeneinblick in Ernst Meisters Metapoesie – Ein Interview mit Dr. Andreas Gerards

Wir präsentieren ein Gespräch mit dem Autor über seine wegweisende Studie zur Poetologie von Ernst Meister

Ernst Meister, der renommierte Büchner-Preisträger, hat die literarische Welt mit seiner Metapoesie geprägt. Doch wie genau hat er den Entstehungsprozess von Gedichten reflektiert und wie beeinflusste diese Reflexion seine Arbeit? Dr. Andreas Gerards, Autor der Studie „Dichten und Denken – Der »Gang« ins Wirkliche“, gibt uns in einem exklusiven Interview Einblicke in seine Forschungsarbeit und enthüllt, wie Ernst Meister durch poetologische Metaphern die Welt der Lyrik neu definierte.

Herr Dr. Gerards, Ihr Buch beleuchtet die Metapoesie Ernst Meisters und wie sie sich im Laufe seines Schaffens entwickelt hat. Könnten Sie uns näher erläutern, inwiefern Ernst Meister in seinen Gedichten den Entstehungsprozess von Gedichten reflektiert und wie diese Reflexion von der Wahrnehmung seiner eigenen Arbeit beeinflusst wird?

„Ernst Meister war ein Autor, der stets daran interessiert war, über Erfahrungen und Erkenntnisse in Verbindung mit seinen Schaffensprozessen in den Gedichten selbst zu reflektieren. Dies beginnt bereits mit lyrischen Gedanken über die Wahrnehmung einzelner Alltagsmomente, für deren Wirkung sich der Augenblicksmensch Meister öffnete und die häufig zum unvermittelten Übergang in einen Schreibvorgang führten. Mit einer Formulierung wie „in jedem Nu/beginnts“ wird beispielsweise der plötzliche Beginn des Dichtens und Denkens thematisiert, angestoßen etwa durch den Anblick von Rosen und ihrer Dornen, was zum Gedanken an das Ganze von Leben und Tod und damit verknüpft zum Schreibdrang führte. In einer lyrischen Reflexion wie „Sein […] singt sich aus in dir“ kommt außerdem eine von Meister immer wieder empfundene eigene Dynamik und Intensität seiner Entstehungsprozesse von Lyrik zum Ausdruck.“

Sie erwähnen, dass Ernst Meister poetologische Metaphern verwendet, um seine lyrischen Gedanken auszudrücken. Können Sie uns einige Beispiele solcher Metaphern nennen und erläutern, wie sie zum Verständnis von Meisters dichterischem Werk beitragen?

„Zur sprachbildlichen Vergegenwärtigung seiner Erfahrungen bei der Entstehung von Lyrik nutzte Meister zahlreiche Wortfelder mit daraus hervorgehenden Metaphern: So verwendete er zum Beispiel metapoetische Bilder von Meer und Seefahrt, um sich die ihn erfassende Dynamik der „Fahrt“ seines Schaffens vor Augen zu führen. Dabei konnten Momente erreicht werden, in denen er eine ihn erschütternde plötzliche Klarheit der Sterblichkeit erfuhr. Dies konnte sogar dazu führen, dass die „Fahrt“ auf dem „Meer“ von Dichten und Denken an einem solchen augenblicklichen „Riff“ scheiterte und dieses „Lied zerschellt“. Gelang es jedoch, den Moment im „Eis“ der Todeswahrheit positiv als Wirklichkeitserkenntnis aufzufassen, so konnte dies das „Feuer“ des Schaffens erneut entfachen. Durch die Vernetzung einer solchen poetologischen Feuer- und Eismetaphorik in einer Formulierung wie „ein Frieren, das brennendste“ war es Meister möglich, das ambivalente Erlebnis dieses Augenblicks in Worte zu fassen.“

In Ihrem Buch finden sich Analysen und Interpretationen von Gedichten aus allen Schaffensphasen Ernst Meisters, einschließlich der Nachlasslyrik und der Textgenese. Können Sie uns etwas mehr über die Herausforderungen und Erkenntnisse erzählen, die sich aus der Untersuchung dieser Nachlassmaterialien ergeben haben, und wie sie dazu beigetragen haben, Einblicke in Meisters poetologische Sprachbilder und Arbeitsweisen zu gewinnen?

„In Gedichten aus dem Nachlass Meisters kann man unter anderem poetologische Reflexionen finden, die in einem emotionaleren und persönlicheren Tonfall als jene in den publizierten Werken verfasst sind. Hierzu gehören etwa wiederholte Bekenntnisse zur für ihn unverzichtbaren Tätigkeit des Dichtens und Denkens und wie er zeitlebens auf die erkenntnisleitenden Wörter vertraute, um immer wieder den „Gang“ ins Wirkliche zu beschreiten. Setzt man sich außerdem mit den im Nachlass enthaltenen Textstufen bis zur endgültigen Form des jeweiligen Gedichts auseinander, so sind besondere Einblicke in die dynamische Arbeitsweise Meisters möglich. Er veränderte beispielsweise einzelne Wörter oder Textteile wiederholt, sodass der „Gang“ einer Textentstehung häufig überraschende Wendungen nehmen konnte. Im Umgang mit dem Nachlass ergaben sich aber auch Herausforderungen und Grenzen, wie die Entzifferung seiner Handschrift oder fehlende Angaben zu den Entstehungszeitpunkten einzelner Textfassungen.“

Die Werke von Ernst Meister sind komplex, tiefgründig und reich an poetischer Schönheit. Dank Dr. Andreas Gerards und seiner Studie „Dichten und Denken – Der »Gang« ins Wirkliche“ haben wir nun einen besseren Zugang zu Meisters Metapoesie und können seine Gedichte mit einem tieferen Verständnis genießen. Wir danken Dr. Gerards für seine wertvollen Einblicke und die Zeit, die er uns in diesem Interview gewidmet hat. Sein Buch ist zweifellos eine Bereicherung für die Literaturwelt und wird dazu beitragen, das Erbe von Ernst Meister weiter zu erforschen und zu würdigen.